Kein Gespräch über die Zukunft kommt heute an den Themen Klima und Konsum vorbei. Allein im 20. Jahrhundert ist die Wirtschaft weltweit um das Vierzehnfache gewachsen, der Energieverbrauch habe sich versechzehnfacht, und die Produktion sein um das Vierzigfache gestiegen. In nur hundert Jahren wurde mehr Energie verbraucht als während der kompletten 200000 Jahre Menschheitsgeschichte davor. Und zehnmal so viel wie in den 1000 Jahren vor dem 20. Jahrhundert. Gemessen an diesem Wahnsinn des modernen Verbrauchens und Verschleuderns kann von „gut gehen“ nicht mehr im Ernst die Rede sein. Und von „besser gehen“ erst recht nicht, wenn damit gemeint wäre, den ungeheuerlichen Stoffwechsel der globalen Wirtschaft noch weiter zu steigern. Das Problem ist: Die gängige und weiterhin herrschende Logik setzt genau das voraus. Dass der ganz wilde Tanz der Überproduktion womöglich in einer sogenannten Endlichkeitskrise steckt, der man auch im schnellsten Tesla nicht mehr entkommt, hat sich offenkundig noch immer nicht zu allen herumgesprochen. Das Höher-schneller-weiter, das Wachstum im bisherigen Sinne, bleibt der Schlüsselbegriff im alten Hokuspokus der dominierenden ökonomischen Lehren, deren einfältiges, aber leider vorherrschendes Menschenbild dringend einer Korrektur bedürfte. Es ist eine Aussage so unbequem wie wahr: Wenn die Erkenntnisse der Klima- und der Klimafolgenforschung stimmen, woran ja kein vernünftiger Zweifel besteht, dann stellt sich nun wieder „die Systemfrage“. Jeder Mensch auf der Welt kauft im Durchschnitt ein Kleidungsstück in der Woche. In der Folge landen in Europa mehr als 5,8 Millionen Tonne Textilien pro Jahr im Müll, in den USA sind es 14 Millionen Tonnen. In Deutschland werden alle fünf Minuten mehr als 9000 Kleidungsstücke entsorgt, die Hälfte aller T-Shirts wird nach weniger als 37 Tagen weggeschmissen. Das ist unverantwortlich gegenüber dem Kind, das heute geboren wird, so weiterzumachen.
Aber wie weiter? Die Antwort hat nicht der Einzelne zu geben. Es geht nicht zuerst darum, weniger T-Shirts zu kaufen oder nur solche aus Ökobaumwolle. Die Antwort ist, die allermeisten T-Shirts gar nicht erst herzustellen, und zwar nicht, weil es von bösen Regierungen verboten wird, sondern weil die Staaten und zuständigen Organisationen den Rahmen für Industrie und Welthandel geschickt so ziehen, dass sich zum Beispiel der Baumwollanbau für Textilramsch nicht mehr lohnt. Und die modischen, kulturellen sozial-psychologischen, also immateriellen Bedürfnisse, die mit dem T-Shirt-Konsum in der alten Welt befriedigt wurden, die regeln wir künftig, dazu später mehr, im virtuellen Raum des Metaversums. Hier liegt die neue Systemfrage, die die Zukunft des Kindes, das heute geboren wird, direkt betrifft: Es braucht eine ökologisch getriebene Perestroika des Kapitalismus, eine Neuausrichtung der Marktwirtschaft weg vom Zerstörerischen, hin zum Nichtverbrauchenden, Bewahrenden. Was für T-Shirts gilt, muss für Zement gelten, für den Bergbau, für die Stahlproduktion, für die Landwirtschaft, für die Verkehrsströme. Natürlich brauchte es auch Schrumpfung. Innehalten. Verzicht. Neue Prioritäten. Die gute Nachricht ist: Der Umbau hat begonnen. Was allein die Europäische Union in den vergangenen Jahren gesetzgeberisch und reformerisch in dieser Richtung geleistet hat, ist - einmal mit Abstand betrachtet – von globaler Bedeutung und historischer Tragweite weit in die Zukunft hinein. Auch sind die Initiativen der Industrie, die neuen Prioritäten der Finanzbranche, die ganze grüne Welle, die durch unser heutiges Wirtschaften läuft, mehr als eine Mode. Es ist ein Umbruch im Gange, kleinteilig , schwer lesbar, aber er findet statt. Die schlechte Nachricht ist: Rund um den Globus wollen gesellschaftliche Mehrheiten, vor allem in den reichen Ländern, ihren Way of Life nicht noch weiter infrage gestellt sehen. Das eigentliche Greenwashing findet dieser Tage häufig nicht in Konzernzentralen, sondern in begüterten Privathaushalten in München, Mailand und Madrid statt, wo der Kaufrausch kein Stück nachlässt, solange die Unbedenklichkeit des eigenen Lebens mit Öko-Labeln zertifiziert ist. Und um diese Klientel nicht zu verschrecken und überhaupt die demokratiemündige Gesellschaft nicht zu behelligen, die Pendler zu schonen und den Dieselfahrern nicht wehzutun, wagen Regierungen zu wenig. Politik heute - nicht nur hierzulande, das gilt für viele Länder in Europa – scheut sich davor, Verantwortung zu übernehmen, die Pandemie hat das auf teils erschreckende Weise zutage gefördert. Sie reden zwar alle viel von Verantwortung, die Kanzler und Ministerpräsidenten, aber häufig verkünden sie nur noch Ziele, und werden sie verfehlt, dann neue Ziele. Aber Ziele sind keine Handlungen.
Politik ist, mit Blick auf die Zukunft, ein überwältigend komplexes Geschäft. Wer für die Bundeswehr Waffen beschafft, für die Bahn Strecken plant, das Rentensystem für kommende Generationen zahlungsfähig halten und nebenbei auch noch russische Truppenbewegungen beobachten muss, hat es wirklich nicht leicht. Und jede Entscheidung schließt die Ungewissheit ein, ob die zugrunde liegenden Annahmen und Szenarien womöglich schon morgen kopfstehen. Was ist zu tun, wenn die Mauer fällt? Wenn die Flugzeuge am 11. September ins World Trade Center krachen? Wenn 2008 das Bankensystem wackelt? Wenn die Pandemie in immer neuen Wellen durchs Land rollt? Das Kind, das heute geboren wird, wird von ihr nicht verschont bleiben. Aber auch ohne den ganz großen Krach ist alles in ständiger Bewegung, selbst wenn sich die Zeitgenossen dessen gar nicht bewusst wird. Gewaltige Megatrends rollen wie langsame Lawinen durch die Zeit, etikettiert mit Namen, die längst alles Mögliche und deshalb oft nicht mehr allzu viel bedeuten: Globalisierung, Digitalisierung, Individualisierung, Urbanisierung, sie sind irgendwie da, irgendwie wirksam, aber auch irgendwie sehr wolkig. Politikerinnen und Politiker benutzen sie gern, weil sich mit ihnen sowohl Ratlosigkeit gut kaschieren, als auch Entschlossenheit gut demonstrieren lässt. Wie oft ist den Deutschen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine flächendeckende, erstklassige Digitalisierung versprochen worden? Und wie oft hat die Globalisierung schon herhalten müssen, um von Regierungsfehlern und Versäumnissen abzulenken? Es ist kaum mehr zu zählen. Dem Kind, das heute geboren wird, hat Scholz im Wesentlichen versprochen, dass alles gut wird und außerdem alles, was in 16 Jahren Angela Merkel liegen geblieben ist, nun angepackt wird. Digitalisierung, Robotik, Zukunftstechnologie, Glasfaser, Halbleiterproduktion, man will das jetzt alles „stärken“ und „ausbauen“. In den kommenden vier Jahren wird Deutschland strukturell „fit“ gemacht „für die Welt des 21. Jahrhunderts“. Man möchte das wirklich gern glauben, aber es kommt für die Politik die Zeit zu liefern. Noch ist alles nur Version, wie gehabt: Wenn das heutige Baby sieben Jahre alt ist, 2030, könnte der Kohleausstieg in Deutschland abgeschlossen sein, „idealerweise“, hat Scholz gesagt. Dann kommen „80 Prozent unseres Strombedarfs“ aus erneuerbarer Energie, und es fahren 15 Millionen neue Elektroautos herum. Man wird sehen. An seinem 22. Geburtstag, im Jahr 2045, soll Deutschland dann klimaneutral sein. Hat Scholz so gesagt. Das heißt, das ganze Land trägt in 22 Jahren durch schädliche Emissionen nichts mehr zur Erderwärmung bei. Hoffen wir das Beste. Versäumt hat es Scholz, und das wird sich rächen, die Deutschen im Ernst auf die Zukunft einzustellen. Versäumt hat er es, allen klar zu sagen, dass sie bald nicht mehr zehn Tonnen Treibhausgase pro Kopf und Jahr produzieren können, sondern unterm Strich kein einziges Kilo mehr. Und was das für den Alltag heißt, nämlich, dass es verdammt eng, verdammt hart wird. Solange dies nicht ausgesprochen ist, wird hierzulande nicht „mehr Fortschritt“ gewagt.